Der Krieg in der Ukraine ist auch ein Informationskrieg. Seit dem 24. Februar ergriffen soziale Netzwerke eine Vielzahl an Interventions-maßnahmen, statt auf eine Neutralität der Tatenlosigkeit zu beharren. Geschuldet scheint dies aber mehr dem spezifischen Konflikt als einer grundsätzlichen Neuausrichtung der Plattformpolitik.

Getötete Zivilist:innen und Soldat:innen, zerstörte Gebäude und Infrastruktur. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges vor genau sechs Monaten sind die sozialen Plattformen überflutet mit Inhalten zur schrecklichen Lage in der Ukraine. Auf ihnen wird mit aller Kraft um die Deutungshoheit über das Kriegsgeschehen gerungen. Gleichzeitig ist es fast unmöglich zu verifizieren, welche Informationen verlässlich, welche falsch und welche gezielte Desinformation sind. Dem zu begegnen, indem einzelne Dienste eingeschränkt oder ganze Plattformen gesperrt werden, birgt eine starke Ambivalenz, denn es stehen sich Akteure mit unterschiedlichen Machtverhältnissen gegenüber: Während die Plattformen als Werkzeug und Resonanzraum für (vor allem staatlich finanzierte) Desinformation und Hassrede genutzt werden, stellen sie für individuelle Nutzer:innen oft die letzte Möglichkeit dar, sich außerhalb der staatlichen Aufsicht zu vernetzen und aufzuklären.

Soziale Medien in Kriegen und in Friedensprozessen – ein altbekanntes Problem

Die Mediatisierung gewaltsamer Konflikte über soziale Medien ist nichts Neues. Auch im Kontext des Ukraine-Krieges werden sie nicht erst seit der russischen Invasion im Februar 2022 strategisch genutzt, um kontroverse Narrative über Kriege zu verbreiten. Bereits vor der Annexion der Krim im Jahr 2014 wurden polarisierende Inhalte und pro-russische Narrative über soziale Netzwerke mit dem Ziel verbreitet, den Zusammenhalt der ukrainischen Bevölkerung zu schwächenForschende zeigten hierbei zwei zentrale Zusammenhänge auf: Erstens verstärkte die Verbreitung widersprüchlicher Interpretationen zum Kriegsgeschehen im Donbass in der Ost-Ukraine kollektive Traumata auf beiden Seiten. Zweitens beeinträchtigten diese Inhalte den Dialog, der den Vereinbarungen von Minsk von 2014 vorausging. In den letzten Jahren gibt es immer mehr Forschung zur Korrelation von sozialen Netzwerken und Kriegen, aber auch zu der Frage, wie soziale Medien Friedensprozesse beeinflussen. 2019 haben die Vereinten Nationen in diesem Zusammenhang das sogenannte Digital Toolkit mit Handlungsempfehlungen veröffentlicht. Die hierfür untersuchten Fallbeispiele umfassen neben der Ukraine auch weitere Länder wie Kolumbien, Uganda, Myanmar und die Philippinen. Bislang hatte sich daraus kein wirklicher Handlungsdruck auf Plattformen entwickelt, Maßnahmen für diese Ausnahmesituationen zu entwickeln. Mit dem Krieg in der Ukraine hat sich dies verändert.

Soziale Plattformen positionieren sich (neu): Maßnahmen im Ukraine-Krieg

Bereits zwei Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs veröffentlichte Meta (u.a. Instagram und Facebook) einen Maßnahmenkatalog. Die wichtigsten Punkte: Sicherheit, Transparenz und ein Monetarisierungsstopp. Konkret bedeutet das: Ein freigeschaltetes Sicherheitstool erlaubt es Ukrainer:innen unkompliziert ihr Facebook-Konto unsichtbar zu machen und so vermeintlicher Verfolgung zu entgehen. Russische Staatsmedien wie Russia Today (RT) und Sputnik wurden mit Transparenzhinweisen versehen und das Schalten von Werbung in Russland und Ukraine untersagt. Kurz darauf wurden eine Vielzahl von Facebook-Konten russischer Staatsmedien in der Ukraine gesperrt, dann auch in der Europäischen Union und im Vereinigten Königreich. Auch auf globaler Ebene hat Meta die Inhalte russischer Staatsmedien schwerer auffindbar gemacht. Diese sogenannte Deamplifizierung wurde auch auf Instagram umgesetzt: Dort wurden russische Staatsmedien weltweit in ihren Feeds in der Priorität heruntergestuft. Instagram machte zudem die Verschlüsselung von Privatnachrichten in der Ukraine und in Russland möglich. Des Weiteren kündigten Facebook und Instagram an, alle kriegsrelevanten Informationen einem Faktencheck zu unterziehen sowie Posts und Profile, die Desinformationen verbreiten, mit einem entsprechenden Hinweis zu kennzeichnen. Die russische Regierung reagierte und sperrte für seine Bevölkerung beide Netzwerke Anfang März. Zwar kam ein Moskauer Gericht zu dem Urteil, dass russische Bürger:innen weiterhin beide Dienste legal nutzen dürfen. Dies ist allerdings ohne Umwege, z.B. über einen VPN-Zugang, nicht mehr möglich. Die staatlich gesteuerte Abkapslung bleibt de facto bestehen.
Google verbot auf seinem Video-Portal YouTube ebenfalls Werbeclips für russische Staatsmedien sowie deren Monetarisierung, in der Ukraine wurden sie komplett von der Plattform genommen. Beim Kartendienst Google Maps wurden die Echtzeitverkehrsdaten in der Ukraine eingeschränkt und die Google-Rezensionen entfernt, damit die  Informationen nicht für die russische Kriegsplanung missbraucht werden können.
Twitter verbot in beiden Ländern Werbeanzeigen auf seiner Plattform und löschte die Profile von Russia Today und Sputnik.  Daraufhin wurde auch Twitter von der russischen Regierung gesperrt und ist für Nutzer:innen in Russland seit dem 4. März nicht mehr verfügbar.
Die chinesische Plattform TikTok löschte lediglich die Accounts von Sputnik und RT und wurde wiederholt kritisiert, russische Propaganda ungefiltert über ihre Plattform verbreiten zu lassen. Beim Messengerdienst Telegram, der aufgrund seiner Nutzerzahlen per deutscher Definition mittlerweile als soziales Netzwerk gilt, wurden ebenfalls die Kanäle von RT gesperrt und sogar ein vollständiges Abschalten der Dienste in Russland und Ukraine für die Dauer des Konfliktes in Erwägung gezogen, was allerdings später wieder verworfen wurdeGründer und CEO Pavel Durov, selbst Russe mit ukrainischer Mutter erklärte, der Dienst sei eine wichtige Informationsquelle und Kommunikationsmedium auf beiden Seiten des Konflikts.

Viel Macht, wenig Transparenz

Welche Macht soziale Plattformen haben, ist durch den Ukraine-Krieg aktuell sichtbarer denn je. Gleichzeitig fehlt es an Transparenz und der Umgang der Plattformbetreiber erscheint im globalen Kontext betrachtet durchaus willkürlich. Es scheint breiten gesellschaftlichen Konsens zu finden, dass sozialen Netzwerken eine zentrale Rolle in der Sicherung öffentlicher Diskurse und des Schutzes der ukrainischen Bevölkerung zu kommt. Vor dem Hintergrund, dass sie diese Rolle in der Vergangenheit in anderen gewaltsamen Konflikten und in der Ukraine vor Februar 2022 allerdings kaum aktiv ausgefüllt haben, ist dies diskussionswürdig. Zwischen 2016 und 2017 in Myanmar als Hass und Hetze – vor allem über Facebook verbreitet – in einem Genozid an der ethnischen Minderheit der Rohingya endete, blieben die Plattformen tatenlos. Erst 2018 erkannte Facebook seine Rolle in der Anstachlung zu „offline Gewalt“ an – nachdem ein unabhängiger Bericht der Vereinten Nationen zu dem Ergebnis kam. Die Gründe für oder gegen ergriffene Maßnahmen der Plattformunternehmen sind entsprechend schwer nachzuvollziehen. Es fehlt an den entscheidenden Stellen an Transparenz darüber, unter welchen Bedingungen Maßnahmen ergriffen und welche Kriterien zugrunde gelegt wurden.

Dabei fordern Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Medien und Politik seit Jahren, dass die Plattformen endlich eine Haltung entwickelten und darauf basierend weitere Ansätze für den Umgang mit Desinformation, Hassrede und Anstachlung zu Gewalt praktizierten. Die Plattformbetreiber taten sich bisher schwer, teils widersprüchliche Interessen abzuwägen. Die Forderung nach einer stärkeren (demokratischen) Regulierung der Plattformen aus Politik und Zivilgesellschaft steht beispielsweise in einem ausgeprägten Spannungsverhältnis zu den Geschäftsmodellen der Betreiber und damit den Interessen von Werbetreibenden und Aktionären. Im Ukraine-Krieg war der Handlungsdruck aufgrund der enormen internationalen Aufmerksamkeit extrem hoch. Dadurch rückten gegenläufige Interessen näher aneinander. Vor allem unter staatlichen Akteuren und Unternehmen bestand Konsens über die Positionierung in diesem Krieg auf die Seite der Ukraine: Seit Februar schlossen sich viele Unternehmen den internationalen Sanktionen gegen Russland an – mehr als 1000 haben den russischen Markt seitdem verlassen. In anderen gewaltsamen Konflikten, wie z.B. in Myanmar lässt sich dies nicht beobachten. Hier forderte vor allem die Zivilgesellschaft zum Handeln auf – mit wenig Erfolg. Es ist anzunehmen, dass die Maßnahmen der Plattformbetreiber in Bezug auf den Ukraine-Krieg folglich weniger einer politischen Positionierung entsprangen, sondern mehr dem Druck seitens einflussreicher Geschäftspartner sowie Regierungen in Kernmärkten, der hier gebündelt zum Tragen kam. Entsprechend leichter war es für die Plattformbetreiber sich ebenfalls zu positionieren – ohne dabei Einbußen oder Forderungen nach tiefergehenden politischen Haltungen fürchten zu müssen. Im Gegenteil: das Verhalten im Ukraine-Krieg stellt eine passende Gelegenheit dar, um Imageschäden aus der Vergangenheit zu bereinigen. Es bleibt abzuwarten, ob der Weg für einen langfristigen Wechsel zu einer Plattformpolitik, die die Sicherheit von Nutzer:innen in den Vordergrund stellt, weiterverfolgt wird, wenn sich die Lage in der Ukraine verändert. Die Forderungen nach stärkerer Transparenz, nach Partizipation der Zivilgesellschaft in der Gestaltung digitaler Räume und nach demokratischer Reglementierung tun dem übrigens keinen Abbruch, im Gegenteil: Es braucht einen breiten Diskurs darüber, wie wir soziale Netzwerke demokratisch reglementieren und gestalten wollen – nicht als krisengetriebener ad-hoc Ansatz, sondern als langfristige Maßnahme über den Ukraine-Krieg hinaus.


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