Algorithmische Systeme können Sicherheitsbehörden dabei unterstützen, Kriminalitätsschwerpunkte vorherzusagen und dadurch mögliche Verbrechen zu verhindern. Zugleich kann ihr Einsatz aber auch dazu führen, dass bürgerliche Freiheiten eingeschränkt werden. In der Medizin lässt sich Krebs mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz deutlich besser entdecken, doch genauso könnten datenbasierte personalisierte Versicherungstarife unser solidarisches Gesundheitssystem aushebeln. Digitale Hilfsmittel können das Gemeinwohl stärken: Sie versprechen bisher Benachteiligten leichteren Zugang zu Bildung, Finanzdienstleistungen oder dem Arbeitsmarkt. Zugleich können sie aber auch Diskriminierung reproduzieren und Ungerechtigkeit verstärken. Für all diese Bereiche gilt: Technologie ist nie per se gut oder schlecht. Entscheidend ist, wie Technologien eingesetzt werden. Und darüber bestimmen immer Menschen.

Doch wo differenzierte Argumente angebracht wären, dominiert in der öffentlichen Debatte leider meist ein Schwarz-Weiß-Denken: Utopien hier, Dystopien dort. Die Techno-Utopist:innen denken, dass es für jede Herausforderung eine digitale Lösung gibt. Dieses blinde Vertrauen führt häufig dazu, dass Technologie entwickelt wird, ohne vorher ausreichend zu überlegen, ob die Lösungen wirklich die Richtigen für die jeweiligen Probleme sind. Für die Dystopist:innen stellt jede digitale Lösung ein gesellschaftliches Risiko da. Sie wenden sich von digitalen Technologien ab, negieren ihre Potentiale und verhindern im schlimmsten Fall gesellschaftlichen Fortschritt.

Beide Extreme sind eine Gefahr fürs Gemeinwohl. Meist sind es profitorientierte Akteure, die digitale Innovationen vorantreiben, während gemeinwohlorientierte Akteure sich auf die Abwehr der gesellschaftlichen Risiken der Digitalisierung fokussieren. So werden Innovationen nur für eine kleine Gruppe an Menschen entwickelt und viele gesellschaft- liche Chancen bleiben ungenutzt. Gemeinwohlorientierung zeichnet sich aber dadurch aus, dass eine gesellschaftliche Entwicklung entlang demokratisch ausgehandelter Werte stattfindet und dabei die selbstbestimmte Entfaltung eines jeden Einzelnen unverzichtbarer Bestandteil des Kollektiven bleibt. Das politische Ziel der Digitalisierung muss daher lauten, individuelle Teilhabe sowie Chancengerechtigkeit zu erhöhen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.

Digitales Europa: Innovation und Gemeinwohl in Einklang bringen

Europa braucht mehr digitale Innovationen, aber ebenso mehr Gemeinwohlorientierung. Die Grundvoraussetzungen für gemeinwohlförderliche digitale Innovationen sind hierzulande eigentlich gegeben: Die Digitalstrategien auf nationaler und europäischer Ebene legen großen Wert auf menschenzentrierte und vertrauenswürdige Technologie- entwicklung. Doch um jenseits von Absichtserklärungen auch Taten folgen zu lassen, müssen Innovation und Gemeinwohl systematisch in Einklang gebracht werden.

Digitalisierungsbestrebungen werden oft in einseitiger Fokussierung auf Effizienz vorangetrieben. Dabei wird ethischen Ansprüchen nachgesagt, dass sie statt Gewinnen nur Hürden für unternehmerisches Handeln produzieren. Genau das ist allerdings ein Trugschluss: Eine frühzeitige Auseinandersetzung mit ethischen Fragen kann ein deutlich effektiveres und effizienteres Vorgehen sein. Wenn Innovationen sich von Anfang an an den Bedürfnissen der Betroffenen orientieren, können nicht nur Fehler vermieden, Akzeptanz gesteigert und somit Wirkung verbessert werden, sondern dadurch auch langfristig wirtschaftliche Vorteile entstehen.

Beim Auflösen dieses vermeintlichen Widerspruchs ist die Kernkompetenz Europas gefragt: Seine in vielen Jahrzehnten gereifte Fähigkeit, verschiedene Interessen auszubalancieren. Dadurch agiert Europa oftmals weder besonders schnell noch besonders entschieden. Doch dieses Ausbalancieren ermöglicht uns, einen Weg zu finden, der Innovation und Gemein- wohlorientierung miteinander verbindet, statt sie als Gegensatz zu begreifen. Europas digitaler Wesenskern unterscheidet sich sowohl vom autoritären Durchgriff Chinas als auch vom libertären Marktfokus in den Vereinigten Staaten. Wir sind der Kontinent des digitalen Ausgleichs. Und das ist eine Stärke!

Umdenken Richtung sozio-technische Umsetzung

Digitaler Ausgleich darf aber nicht zu digitaler Mittelmäßigkeit führen. Um Innovationen gleichermaßen wirksam wie gemeinwohlorientiert zu gestalten, braucht es ein Umdenken in drei Bereichen:

Vom Erfindungsfokus zum Umsetzungsfokus: Auch wenn es trivial klingen mag: Innovation bedeutet nicht nur die Erfindung von Neuem, sondern schließt auch den Prozess der praktischen Umsetzung ein. Im Diskurs um digitale Technologien hat sich aber genau dieser einfache Gedanke noch nicht durchgesetzt. Oft wird einzig auf den Moment der Erfindung geschaut und die Entwicklung von immer mehr, immer neuen digitalen Hilfsmittel gefordert. Das jedoch macht blind für die essenzielle Relevanz der Implementierung. Dabei wurde allein durch die Erfindung von Blockchains, Künstlicher Intelligenz oder dem Internet der Dinge noch keine einzige gesellschaftliche Herausforderung gelöst.

Vom Techno-Solutionism zu einem sozio-technischen Ansatz: Es muss auch mit der Vorstellung aufgeräumt werden, dass digitale Technologien einfache Lösungen für komplexe Probleme bieten. Dieses als „Techno-Solutionism“ bezeichnete Phänomen verführt dazu, die gesellschaftlichen Potentiale von Technologie zu überschätzen und die Komplexität von gesellschaftlichen Problemen zu unterschätzen. Dann wird meist nur das technisch Mögliche in den Blick genommen statt das gesellschaftlich Sinnvolle. Statt mit großer Begeisterung für jedes gesellschaftliche Problem eine technologische Lösung zu entwickeln, gilt es, die Ursachen der Probleme zu erforschen und genau zu prüfen, ob Technologie wirklich dabei helfen kann, diese Ursachen zu beseitigen. Es braucht also einen sozio-technischen Ansatz, der anerkennt, dass die Wirkung von Innovationen vor allem von den bestehenden Strukturen und Praktiken abhängt, in denen sie sich nachhaltig entfalten soll.

Von Top-down-Zielvorgaben zu holistischer Bedürfnisorientierung: Viele digitale Transformationsprozesse scheitern daran, dass sie über die Köpfe der Betroffenen hinweg umgesetzt werden sollen. Top-down-Zielvorgaben führen deswegen oft zu langfristigen Abwehrhaltungen. Wirksame Innovationen greifen die Bedürfnisse aller Betroffenen von vorneherein auf. Konkret bedeutet das beispielsweise in der Pflege, dass von der Seniorin und ihren Angehörigen über den Pfleger, die Physiotherapeutin und den Sozialarbeiter bis hin zur Vertreterin des Wohlfahrtsverbands alle involviert sind und ihre spezifischen Bedürfnisse formulieren können. Nur sie kennen die Herausforderungen für die alltägliche Nutzung digitaler Hilfsmittel; erst ein solcher Perspektivabgleich mit der Praxis und ein iteratives Testen an den Lebenswirklichkeiten macht eine innovative Idee zu einer vielversprechenden Lösung für eine soziale Herausforderung. Und erst ein solcher Praxis-Check überwindet die oft weitverbreitete Skepsis gegenüber Veränderung. Die Aussicht auf konkreten Nutzen schafft Vertrauen in digitale Innovationen.

Anstoß zu Veränderungen

Auch wenn wir alle an der gemeinwohlorientierten Gestaltung der Digitalisierung mitwirken müssen: Es ist die Politik, die die Rahmenbedingungen zu schaffen hat:

  1. Die bislang oft getrennten Sphären von Zivilgesellschaft und Technologieentwickler:innen müssen verbunden werden. Zivilgesellschaft und Wohlfahrtsorganisationen, die die gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit gut überblicken, sind viel zu oft von den technologischen Innovator:innen abgeschnitten. Gleichzeitig könnte man viele Menschen fürs Programmieren begeistern, wenn die zu lösenden Aufgaben nicht hauptsächlich personalisierte Werbung, E-Commerce-Plattformen oder neue Finanzprodukte wären, sondern großen gesellschaftlichen Mehrwert brächten. Die Offenheit, einander besser kennenzulernen, eine gegenseitige Wertschätzung und eine gemeinsame Sprache lassen sich nicht von heute auf morgen erzeugen. Dazu braucht es Möglichkeiten des Austausches. Deshalb sollten wir auch in Deutschland eine Organisation wie Vinnova in Schweden oder Nesta im Vereinigten Königreich schaffen, die den sektorübergreifenden Dialog über gesellschaftliche Belange in den Mittelpunkt von Innovationsförderung stellt und Innovationsprozesse strategisch moderiert.
  2. Unsere derzeitigen Fördermechanismen brauchen eine Neujustierung weg von der Kurzsichtigkeit hin zu einer nachhaltigen Dynamik. Förderprogramme auf Landes- und Bundesebene sind aktuell von zu kurzen, nämlich lediglich zwei- bis dreijährigen Projektzyklen geprägt. So ist die Suche nach neuen Fördergeldern oft dringlicher als die Wirkungs- und Bedürfnisorientierung der Projekte. Gleichzeitig spielt in den Ausschreibungen das agile Testen der Technologien eine noch zu geringe Rolle. Innovationsförderung durch öffentliche Geldgeber:innen darf nicht länger ein Perfektionsstreben im stillen Kämmerlein belohnen, sondern muss eine laute Parole ausrufen: Testen, testen, testen! Die Bedürfnisse der Nutzer:innen sollten von Anfang an im Zentrum stehen und nicht erst kurz vor Projektabschluss erfragt werden. Dafür muss bei der Förderung Bedürfnisorientierung ein maßgebliches Kriterium für Erfolg werden.
  3. Der Staat sollte nicht nur Förderer sein, sondern proaktiver und ambitionierter Innovator. Dabei ist entscheidend, dass er sich von einer engen betriebswirtschaftlichen Logik löst und für Innovationsbestrebungen anders über Profit und Kosten nachdenkt. Insbesondere soziale Folgeabschätzungen sollten standardmäßig mitgedacht werden, so dass ein langfristigerer und nachhaltigerer Blick möglich wird. Während der Corona-Pandemie zeigt sich, dass soziale und gesellschaftliche unverzichtbare Aktivitäten oftmals viel zu wenig Unterstützung finden. Ob im Pflege-, Bildungs- oder Gesundheitssektor: Den Dienst an der Gesellschaft, den gemeinwohlorientierte Innovationen leisten können, ist offensichtlicher denn je. Als Reaktion auf die Corona-Pandemie hat sich ein neues Gelegenheitsfenster für Investitionen auf nationaler und europäischer Ebene geöffnet. Bei der Ausschüttung muss nun auch genau diesem Anspruch einer eindeutigen Bedürfnisorientierung nachgekommen werden.

Digitale Innovationen verändern unser Leben – schon heute und erst recht in der Zukunft. Ob dies gute oder schlechte Veränderungen sein werden, kommt ganz darauf an, wie wir die Erfindungen in unser Leben einbinden. Damit der digitale Wandel nicht nur wirtschaftlichen Erfolg, sondern auch gesellschaftlichen Fortschritt fördert, müssen Gemeinwohlorientierung und Innovationsbegeisterung in Einklang gebracht werden. Zum einen sollten die Bedürfnisse der Menschen, die Technologien nutzen, viel stärker in den Mittelpunkt gestellt werden, zum anderen müssen auch die gesellschaftlichen Akteure eine Nähe zu digitalen Lösungsansätzen suchen. Sowohl die drei Anregungen zum Umdenken wie auch die drei Forderungen an veränderte Rahmenbedingungen sind entscheidend dafür, dass wir uns nicht vom Glanz des sich immer weiter beschleunigenden Technologiewettlaufs blenden lassen. Gerade in diesen Zeiten grundlegender Umwälzungen und großer Ungewissheit brauchen wir ein Verständnis von Fortschritt, der hilft, soziale Herausforderungen zu lösen. Denn digitale Technologien können unsere Gesellschaft fairer und lebenswerter machen, wenn wir sie nur richtig einzusetzen wissen.


Eine gekürzte Fassung des Textes ist als Gastbeitrag von Herrn Dräger in der
Süddeutschen Zeitung am 28. Dezember 2020 erschienen.