Im Jahr 2019 wurden 97% der Arzneimittelrezepte im öffentlichen Gesundheitssektor Portugals elektronisch ausgestellt. Beim siebten Stopp unseres AlgoRail durch Europa berichtet Paula Simoes, dass die Digitalisierung des Systems nicht nur zu einer Optimierung der Ressourcen und einer Kostensenkung geführt hat, sondern vor allem ermöglicht hat, gegen Arzneimittelbetrug vorzugehen – der wurde im ersten Jahr um 80% reduziert.  

2016 wurden ein Programm zur papierlosen Arzneiverschreibung und ein elektronisches System für medizinische Verschreibungen eingeführt – verbindlich für den ganzen öffentlichen Sektor mit nur einigen wenigen Ausnahmen. Dabei werden Daten aus mehreren Datenbanken vom Kontroll- und Überwachungszentrum des portugiesischen staatlichen Gesundheitsdienstes zur Aufdeckung und Bekämpfung von Verschreibungsbetrug verwendet. 

Ärzt:innen füllen Rezepte in einer von den Gemeinsamen Diensten des Gesundheitsministeriums zertifizierten Software aus und unterzeichnen es digital, entweder mit ihrem Personalausweis oder ihrer Ärztekarte. Dann senden sie es per SMS oder E-Mail an das Mobiltelefon des Patienten oder der Patientin, können es ebenso ausdrucken. Ärzt:innen können auch eine mobile App verwenden, um Rezepte auszustellen, indem sie sie mit ihrem digitalen Mobilschlüssel unterschreiben. Der digitale Mobilschlüssel ist ein von der portugiesischen Regierung geschaffenes Authentifizierungsmittel, das die Verknüpfung einer Mobilnummer mit einem Personalausweis ermöglicht. Bürger:innen können ihren Personalausweis dann nutzen, um die verschriebenen Medikamente in einer Apotheke zu kaufen. 

Als das System im Jahr 2015 angekündigt wurde, berichtete die überregionale Zeitung Público, dass etwa 15% der sieben Millionen monatlich verschriebenen Rezepte nicht gekauft wurden, entweder weil die Patient:innen sie sich nicht leisten konnten oder weil sie sich gegen eine Behandlung entschieden hatten. Das neue System lässt die Ärzt:innen wissen, ob die Rezepte gekauft wurden oder nicht. Eine weitere Neuerung besteht darin, dass Patient:innen die verschriebenen Medikamente in verschiedenen Apotheken kaufen können, falls eine Apotheke nicht alle davon vorrätig hat. 

Betrugsbekämpfung 

Zusätzlich zu diesen Verbesserungen war eine Optimierung der Ressourcen und eine Kostenreduzierung Ziel von elektronischen Rezepten. Darüber hinaus sollten vor allem Betrugsfälle deutlich besser aufgedeckt werden. 

Nach Angaben des staatlichen Gesundheitsdienstes konnten im ersten Jahr des neuen Systems Betrügereien um 80% reduziert werden. Im Jahr 2019 waren 97,28% der Verschreibungen im öffentlichen Gesundheitssektor elektronisch (der Anteil der elektronischen Verschreibungen ist im privaten Sektor viel geringer). Das System ermöglicht es dem Kontroll– und Überwachungszentrum des staatlichen Gesundheitsdienstes, Unregelmäßigkeiten zu überwachen und schnell aufzudecken, indem es automatisch Muster bei der Verschreibung und Abgabe von Medikamenten analysiert. 

Das Kontroll- und Überwachungszentrum verwendet Daten aus Rechnungen, die von Apotheken und anderen Anbietern von Dienstleistungen, wie z.B. medizinischen Untersuchungen, ausgestellt werden. Dieser Datensatz wird ergänzt durch Informationen aus elektronischen oder PapierrezeptenKontrolliert wird das Rezept direkt nachdem es verschrieben wurde, indem das System überprüft, ob der Arzt registriert ist und die Verschreibung vornehmen darf und ob der Patient existiert und davon profitieren kann. 

Gefälschte Verschreibungen 

2011 berichtete RTP, die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt, dass die Polizei einen Betrugsfall aus den Jahren 2009 und 2010 untersuchte, bevor das neue System in Kraft trat. Die Rezepte waren im Namen verstorbener Ärzt:innen, mit gefälschten Unterschriften oder für verstorbene Patient:innen ausgestellt worden. Mehrere Ärzt:innen benutzten dieselbe Berufslizenznummer, und ein Arzt stellte 32.000 Rezepte in nur einem Jahr aus – also eines alle 3 Minuten. In dem Bericht wurde erwähnt, dass Arzneimittel 40% aller Betrügereien bei den öffentlichen Ausgaben ausmachten. 

Das System zur Betrugsbekämpfung stützt sich auch auf das Nationale Register von Patient:innen des Gesundheitsministeriums, das Informationen über die Leistungen enthält, auf die Patient:innen Anspruch habenDies ermöglicht die sofortige Überprüfung jeder Transaktion an die verschiedenen Gesundheitsdienstleister. Die Nationale Kommission für Datenschutz genehmigte diese Praxis. 

Wieder in öffentlicher Hand

Die Digitalisierung des Systems der Betrugserkennung geht auf die 1980er Jahre zurück. Das System wurde 2003 unter der Ägide der Zentralverwaltung des staatlichen Gesundheitsdienstes auf die Verschreibungen von Medikamenten ausgeweitet, wobei die Daten von den regionalen Gesundheitsverwaltungen stammen. 

Im Jahr 2007 stellte der Ministerrat über 30 Millionen Euro für vier Jahre zur Verfügung, um das heutige Kontroll- und Überwachungszentrum zu schaffen. Das Projekt wurde von einem privaten Unternehmen, PT Comunicações, entworfen, implementiert und in den Betrieb gebracht. 

Gleichzeitig hat das Gesundheitsministerium versucht, den Einsatz elektronischer Rezepte zu erhöhen – von damals schätzungsweise 40%. Das Versprechen einer schnellen und einfachen Betrugsaufdeckung war eine große Motivation für den Vorstoß zur Digitalisierung. Dies konnte jedoch nur erreicht werden, weil das gesamte technologische Ökosystem entsprechend angepasst wurde. 

Das Rechnungskontrollzentrum nahm 2010 seinen Betrieb auf. Zwei Jahre später wurde eine Einheit für Informationsexploration geschaffen, um die vom Zentrum gesammelten Daten zu analysieren und anormale sowie potenziell betrügerische Situationen aufzudecken. Es wurde ein Betrugsrisikoanalysemodell entwickelt und Verdachtsfälle an die Polizei weitergeleitet. 

In den ersten sieben Jahren entdeckte die Einheit Unregelmäßigkeiten in Höhe von Hunderten von Millionen Euro und war maßgeblich an der Einleitung zahlreicher Strafverfolgungsmaßnahmen wegen Betrugs im Gesundheitswesen beteiligt. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums bearbeitete das Rechnungskontrollzentrum im ersten Halbjahr 2017 Rezepte im Wert von 356,2 Millionen Euro und meldete Verdachtsfälle für 21,1 Millionen Euro an die Staatsanwaltschaft. 

Obwohl das Rechnungskontrollzentrum stets der Zentralverwaltung des staatlichen Gesundheitsdienstes unterstellt war, wurde die Verwaltung, die Wartung und der Betrieb des Zentrums bis Juni 2018 von einem Privatunternehmen übernommen. Dann übertrug der Ministerrat die Verantwortung für diese Einheit an die Gemeinsamen Dienste des Gesundheitsministeriums und unterstellte sie damit vollständig der Kontrolle des öffentlichen Sektors. 

Die Regierung begründete die Übertragung damit, dass sie die Tätigkeit des Zentrums als strategisch für die Effizienz des staatlichen Gesundheitsdienstes und für die Verwaltung der öffentlichen Ausgaben erachtet. Auch Datenschutzerwägungen spielten eine Rolle. 

Im Dezember 2019 stattete die abgeordnete Staatssekretärin für Gesundheit, Jamila Madeira, dem Rechnungskontrollzentrum einen offiziellen Besuch ab. Sie sagte, das Zentrum sei eine Priorität für die Regierung, weil „Genauigkeit, Transparenz und ständige Überwachung wesentliche Instrumente im Kampf gegen Betrug und Korruption sind“. Jeden Monat prüft das Zentrum 8 Millionen Dokumente, 70% davon digital. 

Das war’s für den siebten Stopp unseres AlgoRails durch Europa, auf dessen Reise wir mehr darüber erfahren wollen, wie algorithmische Systeme in unserer europäischen Nachbarschaft eingesetzt werden. Jetzt machen wir uns auf den langen Weg gen Osten und berichten nächste Woche aus Griechenland.


Diese Story wurde von Julia Gundlach  gekürzt und ins Deutsche übersetzt. Der ungekürzte Beitrag wurde auf der Webseite von AlgorithmWatch  veröffentlicht. 

Die Blogreihe AlgoRail ist Teil des Automating Society Reports 2020 von der Bertelsmann Stiftung und AlgorithmWatch, der im Herbst dieses Jahres veröffentlicht und von Dr. Sarah Fischer koordiniert wird. Neben journalistischen Geschichten wie dieser, gibt der Report einen Überblick über verschiedene Anwendungsbeispiele algorithmischer Systeme sowie aktuelle Debatten, Policy Responses und wichtige Akteure in 15 Ländern. Eine erste Ausgabe des Reports ist im Januar 2019 erschienen. 


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