Im vierten von neun Beiträgen über die Effekte von Algorithmen auf einzelne Personen, Staat und Gesellschaft sowie das soziale Miteinander geht es um Freiräume für Dinge, die wir besonders gut können oder mögen. Bislang erschienen: Personalisierung, Zugang und Befähigung.

Früher Nachmittag, Hochbetrieb für einen der fleißigsten Wikipedia-Mitarbeiter: ClueBot NG kontrolliert die Neueinträge. Ein unbekannter Nutzer fügt den Geburtstag seiner Freundin der Liste der Weltereignisse des 27. April hinzu. ClueBot löscht den Eintrag wieder und verwarnt den Nutzer. Im selben Moment schreibt ein anderer Autor mit dem Alias Cct04 mitten in einen Artikel über ein Regierungsprogramm zur Wohnförderung: „ICH WEISS NICHT, WAS DAS IST!“ Auch diesen Kommentar löscht ClueBot umgehend. Cct04 hat schon mehrfach gegen die Regeln verstoßen, deshalb meldet ClueBot den Autor als potenziellen Vandalen. Kurz darauf wird er von einem Administrator gesperrt.

Für ein Autoren-Kollektiv wie die Wikipedia-Gemeinde, in deren Lexikon jeder – und damit auch jeder Witzbold oder Störenfried – etwas eintragen kann, ist die Qualitätskontrolle besonders herausfordernd. Pro Sekunde laufen zwei Änderungen ein. ClueBot ist nur eines von über 300 Computerprogrammen, die automatisch die englischsprachige Version des Online-Lexikons pflegen. Sie nehmen den Wikipedianern viel lästige Arbeit ab, gehen gegen Spam und gezielte Manipulationen vor, stellen mutwillig gelöschte Artikel wieder her, prüfen Quellenangaben oder korrigieren falsch gesetzte Links. Gäbe es ClueBot nicht, müssten die ehrenamtlichen Wikipedianer unzählige Stunden darauf verwenden, ihre Artikel ständig von irgendwelchem Unrat zu säubern. Es bliebe kaum noch Zeit für neue, intellektuell anspruchsvolle Einträge. Etwa jede zehnte Änderung der Online-Enzyklopädie geht inzwischen auf einen solchen algorithmischen Helfer zurück.

Raus aus stupiden Routinen

Die Charité in Berlin optimiert derzeit per Telemedizin die Überwachung von Herz-Risiko-Patienten. Täglich senden mehr als 500 von ihnen, darunter etliche aus der tiefsten brandenburgischen Provinz, wichtige Vitalwerte über das Internet zu den Herzspezialisten in Berlin-Mitte. Morgens kurz auf die Waage, Blutdruck gemessen, ein Kästchen für ein einfaches EKG auf den Brustkorb gehalten und schnell noch das eigene Wohlbefinden eingeschätzt. Keine zwei Minuten später erscheinen die Daten auf einem Bildschirm in der Klinik. Stimmt mit den Werten etwas nicht, melden sich die Ärzte telefonisch direkt beim Betroffenen. Statt alle paar Wochen weite Wege zum nächsten Hausarzt zurückzulegen, bekommen die Patienten der Charité einen täglichen Check-up per Ferndiagnose. Bislang nutzten die Ärzte keine Algorithmen für die tägliche Überprüfung der Vitaldaten. Für den Regelbetrieb mit deutschlandweit 200.000 statt 500 Herzkranken ist das nun der nächste logische Schritt. Die Erfahrungen des Charité-Projekts zeigen: Der Patient ist erstklassig versorgt, die Herzspezialisten haben mit geringem Aufwand eine hohe Erfolgsquote bei der Prävention, und der Hausarzt wird zugunsten akuter Krankheitsfälle um eine Routine-Überprüfung entlastet.

Egal ob Vandalismus-Abwehr im Netz oder Telemedizin für Herzpatienten – die Beispiele zeigen das Potenzial von Algorithmen, uns zeitaufwendige, oft ungeliebte Aufgaben abzunehmen und Freiräume zu schaffen – für Dinge, die uns wirklich wichtig sind, die uns liegen und motivieren, die unser Können, unsere Leidenschaft voll zur Geltung bringen. Besonders überzeugend ist der Software-Einsatz dann, wenn beide Seiten profitieren: Der Wikipedia-Autor gewinnt Zeit für neue Artikel, der Nutzer freut sich über die Qualitätssicherung des Online-Lexikons. Die Ärztin kann jenen Patienten mehr Aufmerksamkeit schenken, die sie besonders brauchen.

Die Effizienz-Falle

Der Wunsch nach mehr digitaler Unterstützung im Beruf ist tatsächlich groß. Längst haben Algorithmen Einzug in die Berufspraxis gehalten: Personalabteilungen verwenden Software, um aus hunderten Lebensläufen die vielversprechendsten herauszufiltern; intelligente Maschinen helfen, die tägliche E-Mail-Flut zu bekämpfen, Termine zu vereinbaren oder Reisen zu buchen. Was die einen als Erleichterung empfinden, versetzt andere in Sorge. Denn technologische Effizienzgewinne können ebenso in höhere Produktivitätsanforderungen an die Mitarbeiter umschlagen wie eintönige oder gar sinnentleerte Arbeit befördern. Ein Kassierer im Supermarkt muss heute weder die Produkte noch deren Preis kennen. Dank Barcode-Scanner erfolgen diese Schritte automatisch, und am Ende des Tages kann durch die gesammelten Daten bis ins Detail nachvollzogen werden, wer wie schnell gearbeitet hat. Für den Kassierer bedeutet dies nicht mehr Zeit für das Wesentliche, sondern einseitigere Arbeit und höherer Leistungsdruck. Die Effizienz-Falle schnappt zu. Im Extremfall braucht es wie in Amazons erstem Supermarkt in Seattle gar keine Kassierer mehr. Kunden checken sich dort beim Betreten und Verlassen des Ladens über eine App ein und aus. Der Rest geschieht automatisch: Kameras und Sensoren erfassen, welche Waren man eingepackt hat, die entsprechende Rechnung wird über das persönliche Amazon-Konto abgebucht.

Solche Umbrüche sind in der Arbeitswelt kein historischer Einzelfall, sondern Normalität. Egal ob bei Dampfmaschine und industrieller Massenproduktion, bei Elektrizität und Fließbandarbeit oder bei Computer und Digitalisierung – es waren zunächst ökonomische Überlegungen und technische Möglichkeiten, die den Fortschritt getrieben haben. Die Mitarbeiter mussten um ihre Interessen meist hart ringen. Dennoch stellt heute kaum jemand die Errungenschaften der industriellen Revolutionen ernsthaft in Frage, die früheren Arbeitsbedingungen wünscht sich niemand zurück. Die Gesellschaft ist durchaus in der Lage, technischen Fortschritt zum sozialen Vorteil zu nutzen. Die Betrachtung von algorithmischer Automatisierung als Bedrohung für Arbeitsplätze verengt den Blick auf die Angst, ersetzt zu werden. Es muss vielmehr darum gehen, dass wir Künstliche Intelligenz als Hebel zur Erweiterung unserer Fähigkeiten nutzen. Algorithmen können repetitive Tätigkeiten in immer mehr Berufen besser und schneller erledigen. Manuelle Geschicklichkeit, echte Kreativität oder soziale Kompetenz sind aber auf absehbare Zeit kaum automatisierbar. Moderne Technik kann diese menschlichen Stärken wieder in den Mittelpunkt unseres Tuns rücken.

Jenseits von Profit und Produktivität

Arbeit muss sich in Zukunft mehr nach den Bedürfnissen der Menschen richten. Algorithmen können helfen, den individuellen Bedürfnissen nach einer besseren Work-Life-Balance gerecht zu werden – wenn sie jene Aufgaben übernehmen, die uns schwerfallen, langweilen oder unverhältnismäßig viel Zeit kosten. Das Ziel bei der Integration von Künstlicher Intelligenz in den Berufsalltag wäre demnach, künftig weniger und erfüllender arbeiten zu können. Algorithmische Automatisierung hieße dann, Mitarbeitern mehr Freiräume zu geben, nicht sie zu entlassen.

Für Menschen, die gerne kreativ, analytisch und in sozialer Interaktion arbeiten, kann die algorithmische Gesellschaft ein echter Segen sein. Ihre Talente kommen künftig noch besser zu Geltung. Doch wie groß ist die Gruppe derjenigen, für die diese Entwicklung Fluch statt Segen bedeutet? Entsteht gerade ein neues Proletariat 4.0, während nur eine digitale Elite mehr Freiräume gewinnt? Niemand kann diese Fragen zuverlässig beantworten. Derzeit lassen sich weder Arbeitsmarkt noch Arbeitsbedingungen auch nur annähernd seriös vorhersagen. In der Vergangenheit zumindest hat technologischer Fortschritt stets mehr neue Jobs hervorgebracht als alte vernichtet. Falls künftig doch nicht mehr genug Arbeit für alle zur Verfügung stehen sollte, muss das aber keine Katastrophe sein. Wer finanziell abgesichert ist – etwa durch ein bedingungsloses Grundeinkommen – kann sein Leben durchaus auch ohne klassische Erwerbstätigkeit sinnhaft gestalten.

Auch mit finanziellen Sicherheitsnetzen wird aber nicht jeder ohne Arbeit zufrieden sein. Deswegen bleibt die Gesellschaft in der Pflicht, für alle Bürger Sinnstiftung zu ermöglichen. Weil jeder je nach Überzeugung und individuellen Bedürfnissen ganz unterschiedliche Dinge für wesentlich hält, braucht es ein intensives Ringen um den Stellenwert von Zielen jenseits von Profit und Produktivität. Am Ende muss ein übergeordneter Konsens stehen, was die Gesellschaft für wirklich wichtig hält. Wenn dies gelingt, muss „Mehr Zeit fürs Wesentliche“ kein Privileg für Wikipedia-Autoren und andere Vertreter der digitalen Elite bleiben.

Dieser Beitrag basiert auf einem stark gekürzten und adaptierten Auszug des Kapitels „Freiraum: Mehr Zeit fürs Wesentliche“ aus dem Buch „Wir und die intelligenten Maschinen“.


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