Das neue EU-Personal sieht unruhigen digitalpolitischen Zeiten entgegen. Europa hat dabei Einiges zu verlieren – und muss die Herausforderungen daher dringend annehmen.

In der vergangenen Legislaturperiode haben die Juncker-Kommission, Parlament und der Rat der Mitgliedstaaten sich vor allem der Stärkung des Digitalen Binnenmarktes verschrieben. Der ist nicht identisch mit dem Binnenmarkt, blieb lange Zeit sogar weit hinter vielen Ansprüchen des klassischen Binnenmarktes zurück. Denn die Umsetzung der entsprechenden EU-Richtlinien klaffte im nationalen Recht oft so weit auseinander, dass von einem echten digitalen Binnenmarkt kaum die Rede sein konnte.

Doch trotz aller nötigen, aber nicht immer zielführenden Kompromisse: mit der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), den Verbesserungen beim Roaming, der Free-Flow-of-Data-Verordnung, der EU-Cybersicherheits-Richtlinie oder dem dauerhaften Mandat für die Cybersicherheitsbehörde ENISA ist die EU auf dem Weg in einen gemeinsamen digitalen Binnenmarkt wesentlich vorangekommen. Allerdings sind zugleich einige politische Aufgaben noch offen oder bereits vorgesehene Überprüfungen fällig. Man denke etwa an die umstrittene E-Privacy-Verordnung, die als wichtiger, logischer Komplementär zur DSGVO seit drei Jahren fehlt, oder an die mittlerweile durch andere Regelungen teilentkernte Haftungssystematik der E-Commerce-Richtlinie, deren Evaluation aussteht. Was zugleich Ausdruck des Problems ist: Die Digitalpolitik der EU besteht aus einer Vielzahl an untereinander oft nicht direkt ersichtlich verschränkten Maßnahmen, die ihrerseits mit einer Vielzahl an nationalen Regeln, Umsetzungen und Ergänzungen sowie internationalen Verpflichtungen und Initiativen zusammenwirkt.

Jeder Mitgliedstaat führt bei 5G die gleichen Debatten

Auch bei akutem Regelungsbedarf ist die Reaktionszeit der EU-Institutionen derzeit noch viel zu lang. Regelmäßig gehen daher Nationalstaaten vorweg – was selten mit einem gesamteuropäischen Konzept verbunden ist. Etwa beim Aufbau der 5G-Infrastruktur: Sowohl beim Ausbau selbst als auch bei den zuletzt viel debattierten Sicherheitsanforderungen – fast in jedem Mitgliedstaat wurde dasselbe, anders und mit anderen Lösungskonzepten debattiert. Zum Beispiel die Frage, ob und wenn ja auf welche Weise chinesische Anbieter am Aufbau der Infrastruktur beteiligt werden dürfen. Dabei gibt es sachlich keinen Unterschied. Und durch die Vernetzung innerhalb Europas ist die Idee national souveräner Entscheidungen über das Problem auch rein virtuell. Diese Herangehensweise kann nicht sinnvoll sein, die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen sich daher überlegen, ob es nicht ergänzender europäischer Koordinierungsverfahren bedarf, um wenigstens ein Mindestmaß an Konsistenz der nationalstaatlichen Regelungen und Initiativen herzustellen.

Dass nationalstaatliche Alleingänge nicht zielführend sind, zeigt sich auch an anderen aktuellen Debatten im internationalen Umfeld. Die nationale Abschottung nimmt wieder zu. China bewegt sich nur zögerlich und mit vielen Beschränkungen in Richtung freier Märkte. In den USA scheint der Freihandel neuerdings eher kurzfristigen politischen Interessen nachgeordnet zu sein. Umso mehr braucht die EU gemeinsame Antworten. Etwa wie sie mit ihren starken Abhängigkeiten im Digitalen von Dritten umgeht. Wie sie auf Streitbeilegung, auf Einhegung der Folgen der Streitigkeiten hinwirken kann. Und wie sie dabei die europäischen Interessen und Grundwerte schützen und stärken kann. Hier eine aktive Rolle zu spielen ist nur in der Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten möglich.

Es fehlt an einer europäischen Gesamtstrategie für Digitalisierung

Insbesondere in den grundrechtsrelevanten Bereichen, also bei den Grundvoraussetzungen für soziale, kulturelle, wirtschaftliche und politische Teilhabe, fehlt es der EU bislang an einer Gesamtstrategie für die vernetzte Digitalisierung unserer Zeit. Die Beschlüsse des G20-Gipfels in Osaka zeigten zum Beispiel, dass über den Verweis auf die unverbindlichen OECD-Guidelines und einige – aus europäischer Sicht – Selbstverständlichkeiten hinaus derzeit kein globaler Konsens zum vieldiskutierten Thema Künstliche Intelligenz zu erwarten steht. Dabei sind genau solche Technologien wesentliche Treiber: Hersteller von Hard- und Software erschaffen die digitale Realität entsprechend ihrer Interessen und ihrer regulatorischen Umfelder, und exportieren diese dann weltweit.

Die mittel- und langfristigen Folgen dieses technologiegestützten Imports anderer Wertesysteme sind derzeit kaum abschätzbar. Hierfür einen Umgang zu finden ist die erste wesentliche Herausforderung für die digitale Zukunft der EU, ihrer Mitgliedstaaten und Bürger. Und das scheint auch durchaus möglich: Die EU ist als Absatzmarkt zumindest derzeit so attraktiv, dass sich die Hersteller einen Verzicht auf diesen kaum leisten können. Schon bei der DSGVO zeigte sich, dass eine europäische Regelung auch in solchen Ländern Bewegung in Debatten bringen kann, die bislang sehr zurückhaltend waren.

Damit die EU aber die eigenen Ansprüche tatsächlich formulieren kann, ist das reine Regulieren zu wenig. Und das wird die zweite Kernaufgabe der kommenden EU-Legislatur sein: dafür zu sorgen, dass in Europa der Rahmen für ein Ökosystem entsteht, das eine gesellschaftlich positive Digitalisierung befördert. Zu tun gäbe es also genug für die neue Kommission, den Rat und das Parlament. Aber dafür braucht es mehr als das Klein-Klein der vergangenen Jahre, in dem innereuropäische Partikularinteressen und das Gemeinwohl zu oft gegeneinander ausgespielt wurden. Löst die EU diese Herausforderung nicht, wird die Bedeutung Europas und europäischer Werte in der Digitalisierung zwangsläufig weiter abnehmen. Eine der ersten Fragen an die neuen politischen Akteure muss deshalb lauten: Challenge Accepted?


Statusupdate – Automatisierte Entscheidungen sind ein wesentlicher Treiber der digitalen Veränderungen. Viele Aspekte der Debatte rund um künstliche Intelligenz sind dabei Teil der größeren Diskussion über Digitalisierung: wie verändern wir die Welt zum Guten? Wie lassen sich technologischer Fortschritt, Werte und Weltsichten miteinander in Einklang bringen? Welche Prämissen sind es, die jenseits technologischer Determinanten eine Rolle spielen? Viele Fragen, für die politische Akteure regelmäßig Antworten finden sollen und müssen. In der Kolumne Statusupdate werden die Entwicklungen der Digitalpolitik beobachtet und kommentiert.


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