Dieser Beitrag ist der Auftakt einer fortan alle zwei Wochen erscheinenden Kolumne, in der wir dem digitalen Geschehen rund um KI auf den Grund gehen.

Neuland war es für die große Politik, als heute vor 25 Jahren der damalige US-Vizepräsident Al Gore vor der Internationalen Fernmeldeunion (ITU) in Buenos Aires auftrat. Er hielt eine vielbeachtete Rede über die künftigen Information Super Highways und ihre wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Bedeutung. War das visionär? Oder doch eher naiver Technologieoptimismus?

Ein Zufall war es nicht, dass der damalige US-Vizepräsident sich des Themas Vernetzung annahm. Al Gore hatte in seiner Karriere bereits mehrfach aktive Technologiepolitik betrieben. Als Senator hatte er unter anderem 1991 den High Performance Computing Act initiiert – The Gore Bill. Darin enthalten: die National Information Infrastructure. Zwar war das vor allem ein politischer Begriff und keine konkrete Infrastrukturmaßnahme – und doch lässt sich aus Gores Initiative manche Entwicklung der darauffolgenden Jahre ableiten. So floss ein Teil der mit dem Gore Bill bewilligten Mittel ins National Center for Supercomputing Applications in Urbana-Champaign, Illinois, einem der maßgeblichen Orte der Internetgeschichte in den USA. Dort ging zeitweise unter anderem ein gewisser Marc Andreessen seiner Tätigkeit nach. Im Januar 1993 brachte er zusammen mit Eric Bina den ersten Webbrowser Mosaic heraus, der große Verbreitung fand – vor allem, weil er Text und Bildelemente gemeinsam darstellen konnte. Andreessen gründete wenig später Netscape und ist heute noch als Investor tätig – unter anderem in Unternehmen, die Künstliche Intelligenz nutzen. Eine von vielen indirekten Auswirkungen der Gore-Initiativen.

Doch schon vor 25 Jahren hörte man auch einige nachdenkliche Stimmen über die Auswirkungen der Digitalisierungspolitik: in einem Newsletter der Vereinigung „Computer Professionals for Social Responsibility“ begrüßte und kritisierte Marc Rotenberg die Pläne Al Gores. Der heutige Vorstand der ebenfalls vor einem viertel Jahrhundert gegründeten Bürgerrechtsorganisation Electronic Privacy Information Center kritisierte zum Beispiel, dass das US-Recht auf Privatsphäre, der Electronic Communications Privacy Act, für diese nun kommende Zeit womöglich nicht ausreichend Schutz biete – was retrospektiv wohl als zutreffend gelten kann.

Al Gores National-Information-Infrastructure-Initiative war der Vorläufer dessen, was ihm auch international vorschwebte. Und genau bei dem Gedanken der Supercomputer, der leistungsstarken Zentralrechner, setzte Gore schon 1994 bei seiner Rede vor der ITU an – und skizzierte eine Welt, in der nicht Zentralrechner, sondern dezentrale, vernetzte Systeme über schnelle Datenverbindungen miteinander verbunden würden. Gore nannte dies „Netzwerke verteilter Intelligenz“. Den Wandel fasste er so: „In der Vergangenheit waren alle Computer Großrechner mit einer einzigen Recheneinheit, die Probleme nacheinander abgehandelt haben, eins nach dem anderen, jedes Bit hin und her gesendet zwischen dem Prozessor und den riesigen Speichern drum herum. Heute haben wir parallel rechnende Computer mit Hunderten oder Tausenden eigenständigen Prozessoren, alle miteinander verbunden und so viel mächtiger und flinker als der fortschrittlichste einzelne Prozessor, weil sie alle einen kleinen Teil eines Problems gleichzeitig lösen. Und wenn alle Teile zusammengefügt werden ist das Problem gelöst.“

Gore sparte nicht an großen Vergleichen: „In gewisser Weise wird die globale Informationsinfrastruktur eine Metapher für Demokratie selbst sein. Repräsentative Demokratie funktioniert nicht mit einer allmächtigen Zentralregierung, die sich alle Entscheidungen selbst anmaßt. Das ist der Grund, warum der Kommunismus zusammenbrach.“ Für Gore schien der Weg vorgezeichnet: „Die Globale Informationsinfrastruktur wird nicht nur eine Metapher für funktionierende Demokratie sein, sie wird auch tatsächlich das Funktionieren der Demokratie verbessern – dadurch, dass Bürger an Entscheidungen besser beteiligt werden. Und sie wird auch die Kooperationsfähigkeit der Nationen vorantreiben. Ich sehe ein neues, athenisches Zeitalter der Demokratie voraus, geformt in den Foren die die Globale Informationsinfrastruktur hervorbringt.“

Ob dies so gekommen ist mag jeder selbst beurteilen, und dabei vielleicht auch noch einmal über die tatsächliche Qualität der Demokratie im historischen Athen nachdenken. Oder sind es nicht vielleicht sogar gerade autoritäre und zentralistische Systeme, die inzwischen durch die modernen, algorithmen- und datenbasierten Werkzeuge handlungsfähiger werden? Die ohne die Beschränkungen der repräsentativen Demokratien ihre Bürger und andere gesellschaftlichen Akteure effizienter überwachen und zur Systemkonformität verpflichten, indem sie digitale Effizienzgewinne ungehemmt ausnutzen? In diese Richtung argumentiert beispielsweise der Historiker Yuval Noah Harari.[1]

Einige Aspekte der Rede Al Gores sind bis heute Wunschdenken geblieben – oder Dauerbrenner politischer Versprechungen. Weder in der Medizin, bei der er von ortsübergreifend-vernetzt agierenden Ärzten träumte, haben sich seine Visionen verwirklicht, noch in der Bildung. Statt einer „globalen Bibliothek“, an der alle Bildungseinrichtungen und alle Bürger partizipieren, sind immerhin Suchmaschinen und die Wikipedia entstanden. Aber auch der vor 25 Jahren erhoffte Jedermann-Zugang zum Netz steht global betrachtet nach wie vor aus. Der egalitäre Technologieoptimismus jener Tage hat in der Realität oft verloren. Heute spielen statt dezentraler, vernetzter Computernetze zentrale Anbieter von Rechenleistung als Clouddienste und Web Services fast wieder die Rolle, die einst Großrechner innehatten – und die Endgeräte werden wieder zu etwas besseren Terminals, mit denen sich diese bedienen lassen.

Deutlich näher an der Realität wirken in der Rückschau hingegen Gores Vorhersagen über die ökonomischen Möglichkeiten, die mit der stärkeren Vernetzung einhergehen würden. Gore sprach von enormer Wertschöpfung, von wirtschaftlichen Chancen in Höhe von Hunderten von Milliarden Dollar. Allein Facebook steht heute für 420 Milliarden Dollar Börsenwert – und damit sechs Mal so viel wie Volkswagen.

Ausgerechnet die Institution, vor der Al Gore vor einem Vierteljahrhundert in Argentinien sprach, hat der damalige US-Vizepräsident allerdings ziemlich überschätzt: Die Internationale Fernmeldeunion ITU hat in den vergangenen 25 Jahren deutlich an Macht verloren. Während die zwischenstaatliche internationale Organisation in der Zeit von Telegrammen, Fax und Telefon die maßgebliche Instanz für die globale Kommunikation war, entzieht sich das digitale Zeitalter in weiten Teilen ihrer Kontrolle. Das Aufkommen des Internets und die Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte liefen parallel ab oder gingen Hand in Hand, die westlichen Staaten überließen die Organisation des Netzes der Netze zunächst weitgehend dem freien Spiel der Märkte, der Ingenieure und ihrer Koordinationsforen. Erst in den vergangenen zehn Jahren entdecken viele Staaten die Regulierung des Digitalen erneut. Doch größere politische Visionen, Leitlinien, Ziele, über die man streiten kann wie einst über Al Gores Rede vor 25 Jahren sind im demokratisch geprägten Teil der Welt bis heute selten. Schade, denn Anlass gäbe es genug.

[1] Yuval Noah Harari: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, 2018, München, S. 103.


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