In den frühen 1980er Jahren begannen die ersten Börsenhändler mit Computern zu experimentieren. Als ihre Methoden Erfolg hatten, schafften sich weitere Händler einen Rechner an. Zug um Zug wurde der Finanzhandel automatisiert. Algorithmen treffen nun großteils die Handelsentscheidungen, mit gravierenden Auswirkungen für die Gesellschaft (siehe Teil 1: „Automatischer Finanzhandel: So krempeln Algorithmen die Finanzmärkte um„).

Zu Beginn der Experimentierphase waren alle Computer noch autark, die einzige Verbindung zwischen ihnen war der Markt selbst. Doch mit dem Aufkommen des Internets wurden sukzessive alle Akteure miteinander vernetzt. Jeder Händler wurde in den stetig wachsenden Finanz-Cyberspace hineingezogen, in ein komplexes, adaptives System.

Ein solches System ist einerseits vergleichbar mit dem menschlichen Gehirn, dem Immunsystem oder unserem Ökosystem. Auf der anderen Seite gibt es jedoch einen gravierenden Unterschied zu biologischen Systemen: die fehlende Selbstregulierung, etwa im Hinblick auf Größe und Geschwindigkeit.

Um eine derart komplexe Technosphäre zu regulieren, benötigt es eine neuartige Form des politischen Denkens. Ein systemisches Denken, ähnlich wie jenes von Biologen und Physikern, die Bewegungsmuster von natürlichen Organismen und Ökosystemen erforschen und deren Zusammenhänge zu entschlüsseln versuchen.

Der von der Politik oftmals praktizierte Versuch, die unterschiedlichen Eigeninteressen der Akteure zu vertreten oder auszugleichen, kann in einem nicht linearen System, in dem Ursache und Wirkung keiner erkennbaren Logik folgen, am Ende mehr Schaden verursachen als beheben.

Naives Intervenieren

Mehr als drei Jahrzehnte nachdem der erste Computer an der Börse aktiv wurde, startete die EU den Versuch, den algorithmischen Computerhandel zu regulieren. Mit Januar 2018 trat die EU-Finanzmarktrichtlinie (MiFID II) in Kraft. Der Gesetzgeber stellte darin zwar fest, dass der Einsatz von Technologie die Komplexität des Finanzmarkts erhöht hat, eine gemeinsame Vorstellung von einer nachhaltigen Steuerung eines komplexen, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Systems, wurde jedoch nicht ausgearbeitet.

Wie eine solche Steuerung aussehen könnte, dafür liefert der Ex-Wall-Street-Finanzmathematiker und Wissenschaftler Nassim Nicholas Taleb einen Denkansatz, der zwischen vier Interventionsarten unterscheidet: Begrenzung der Größe von einzelnen Akteuren sowie Reduktion von Konzentrationsprozessen, Geschwindigkeit und Komplexität. Diese vier Interventionsarten wirken sich laut Taleb vorteilhaft auf das Gesamtsystem aus, indem sie unberechenbare negative Ereignisse reduzieren.

Immer schneller

In keinem der vier Steuerungselemente hat die EU-Finanzmarktrichtlinie jedoch einen Fortschritt erzielt. Etwa bei der Geschwindigkeit, die am Finanzmarkt bei vielen Handelsstrategien von großer Bedeutung ist. Wer etwa Preisunterschiede zwischen einzelnen Produkten und Börsen zu seinem Vorteil ausnützen möchte, benötigt ein schnelleres Handelssystem als seine Mitbewerber. Dieser Umstand führte an den Finanzmärkten zu einer Art Race to Zero: Der automatisierte Handel wurde rasend schnell, sodass Zeitunterschiede mittlerweile in Nanosekunden gemessen werden.

Jedoch „Langsamer ist oftmals schneller“, wie es Dirk Helbing von der ETH-Zürich in einer wissenschaftlichen Arbeit beschreibt. Etwa im Straßenverkehr, wo Raserei oftmals Unfälle produziert und die Raser ein Risiko für Unbeteiligte verursachen. Aus diesem Grunde führte man Tempolimits ein, die zu einer Risikoreduktion und zu einer Verkürzung der Gesamtreisezeit für alle Verkehrsteilnehmer führen.

Eine solche Geschwindigkeitsbeschränkung sah anfänglich auch der EU-Gesetzgeber vor. Etwa durch die Einführung einer „Minimum Order Resting Time“, also eine Art Geschwindigkeitsbeschränkung für Handelsaufträge in Höhe von 500 Millisekunden. Doch dieser Vorschlag wurde, nachdem das EU-Parlament ihn bereits mehrheitlich gefordert hatte, einfach wieder wegverhandelt. Die Geschwindigkeit des Gesamtsystems wird damit auch in Zukunft weiter ansteigen.

Immer konzentrierter

Nicht besser lief es bei der Unterbindung von Konzentrationsprozessen. Schon heute handeln hochfrequente algorithmische Computerhändler, wie etwa das US-Unternehmen Virtu Financial, an 235 unterschiedlichen Handelsplätzen in 36 Ländern weltweit mit circa 12.000 verschiedenen Finanzinstrumenten.

Anstatt einer Dezentralisierung des Gesamtsystems verursachen die algorithmischen Computerhändler damit einen engen Zusammenschluss vieler Marktakteure, die sich somit in einer sehr sensiblen, automatisierten Wechselwirkung zueinander befinden. Einzelne Systemstörungen werden damit ultraschnell über den ganzen Globus verbreitet und bleiben nicht auf regionaler Ebene begrenzt (siehe Teil 1: „Automatischer Finanzhandel: So krempeln Algorithmen die Finanzmärkte um„).

Eine Begrenzung der Anzahl von Handelsplätzen, des regionalen Aktionsradius oder der Produkte, an und mit denen Computerhändler gleichzeitig handeln dürfen, wäre daher ein regulatorischer Fortschritt gewesen. Die EU-Finanzmarktrichtlinie sieht solche Begrenzungen jedoch nicht vor.

Immer größer

Auch bei der Größe wurde nicht eingegriffen. Mindestens seit der Finanzkrise 2008 wird getreu dem Motto „Too big to fail“ diskutiert, dass kein Akteur zu groß werden darf. Denn kollabiert ein kleiner Akteur, bleibt der Schaden klein, geht jedoch ein systemrelevanter Akteur bankrott, kann er das Gesamtsystem mit in den Abgrund reißen, wie die Geschichte es lehrt: Das war zum Beispiel im Kommunismus so, als der zu große Staat selbst ins Schwanken geriet und das ist nun auch im Kapitalismus so, wo schrankenlos ausufernde Finanzinstitutionen mittlerweile an den Grundfesten der Gesellschaft rütteln.
In der Branche der algorithmischen Computerhändler herrscht zurzeit nach einer anfänglichen Wachstumsperiode eine erste Konsolidierungsphase: Es kommt zunehmend zu Fusionen von Computerhandelsunternehmen. Aus vielen kleinen Akteuren kristallisieren sich so mit der Zeit mehrere große Akteure heraus.

Damit diese Akteure niemals systemrelevant werden, müsste ihre Größe frühzeitig begrenzt werden. Etwa durch eine Obergrenze des Handelsvolumens, das ein Unternehmen erzielen darf, oder eine strikte Trennung der Handelsstrategien, ähnlich wie bei einem Trennbankensystem, wo die Bereiche der Geschäftsbanken und der Investmentbanken organisatorisch getrennt sind.

Doch auch eine derartige Größenbegrenzung beinhaltet die EU-Finanzmarktrichtlinie nicht. Stattdessen hat die Politik die Barrieren für den Zugang zu den Märkten erhöht, indem sie die regulatorischen Anforderungen dramatisch verschärft hat. Der Effekt davon ist, dass kleine, innovative Händler aufgrund dessen vom Markt ausgegrenzt werden und die bedrohliche Rolle der etablierten Großen gefestigt wird.

Immer komplexer

Die unzähligen regulatorischen Maßnahmen haben jedoch noch einen weiteren Effekt. Sie machen das Gesamtsystem komplexer. Studiert man den Gesamttext der EU-Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente MiFID (Markets in Financial Instruments Directive) inklusive der delegierten Rechtsakte und dem Anhang, dann kommt man auf rund 1.300 Seiten. Die MiFiD II ist dabei nur eine von mehr als 30 EU-Gesetzesinitiativen im Bereich der Finanzmarktregulierungen, die seit dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 in Angriff genommen wurden. In Summe wurde ein Regulierungsregime aufgebaut, bei dem die selbst besten Anwälte keinen Überblick mehr bewahren können.

Hinzu kommt, dass die künstliche Intelligenz (KI) auch am Finanzmarkt voranschreitet. Intelligente Computersysteme, die aus ihren eigenen Erfahrungen lernen und Rückschlüsse ziehen, so wie es wir Menschen machen, sind bereits heute Bestandteil der Finanzwelt. Etwa der Hedgefonds Aidyia. Er begann im Januar 2017 am Aktienmarkt medienwirksam mittels eines künstlich intelligenten Algorithmus zu handeln.

Doch bereits heute sind die komplexen mathematischen Modelle der Computerhändler nur schwer nachvollziehbar. In Zukunft wird es nicht einfacher werden zu erkennen, was und vor allem warum algorithmische Finanzhändler agieren, wie sie es tun. Die Komplexität wird weiter zunehmen.

In Summe kann man wohl sagen, dass die EU-Politik bei der Reform des Finanz-Cyberspace, bei der Steuerung dieses komplexen Systems, alle vier Elemente von Nassim Taleb ignoriert hat. Sie intervenierte an dieser Stelle naiv, so wie der Autor in seinem Buch Anti-Fragilität den unbedingten Tatendrang der Politik beschreibt, mit dem am Ende die Situation nicht besser, sondern noch schlechter wird. Welche Möglichkeiten in diesem System Aufsichtsbehörden wie die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) bei der Kontrolle von Manipulation noch haben, damit beschäftige ich mich in Teil 3. Bleiben sie mir weiter treu.